...aus der Serie: DIE VERHÖRE DES INVASOR # Berliner Dramatiker Paul M Waschkau über die Absetzung des umstrittenen Stückes NACKTES LEBEN...oder...BEI LEBENDIGEM LEIBE am Mainfranken Theater Würzburg

Das reine unbegreifliche Grauen

Wir haben uns geirrt und werden uns weiter irren.

Und wir kommen aus diesem Irrsinn nicht heraus.

 

Elena R. Graves im Gespräch mit dem Berliner Dramatiker Paul M Waschkau über die abgesetzte Uraufführung seiner preisgekrönten wie umstrittenen dramatischen Komposition „NACKTES LEBEN...oder...BEI LEBENDIGEM LEIBE am Mainfranken Theater Würzburg

 

 

 

Die überraschend wie kurzfristige Absetzung der Uraufführung der dramatischen Komposition „NACKTES LEBEN... oder... BEI LEBENDIGEM LEIBE“ des Berliner Dramatikers PAUL M WASCHKAU am Mainfranken Theater Würzburg sorgt für Wirbel. Ein Jahr lang stand das preisgekrönte Stück für den 16.Juni 2012 auf dem Spielplan des MFT WB für mindestens 8 Vorstellungen zur URaufführung an. Drei Tage vor der Premiere wurde es dann von der Theaterleitung, die es noch ein Jahr zuvor mit dem Leonhard-Frank-Preis ausgezeichnet hatte, kurzfristig „zum Schutze des Würzburger Publikums“ vom Spielplan abgesetzt. Im anvisierten Aufführungszeitraum vom 16.6. bis zum 31.7. 2012 steht die komplette Stücktextur neben anderem MATERIAL zur UA online.

 

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ergraves # Herr Waschkau, statt uns – wie geplant – über die UA Ihrer dramatischen Komposition „NACKTES LEBEN...oder... BEI LEBENDIGEM LEIBE“ zu unterhalten, steht nun die überraschende Absetzung des Stückes zur Debatte. Wo und wie haben Sie davon erfahren?

 

pmwaschkau #  Ich befand mich zu der Zeit auf einem Artaudsymposium im ziemlich abgelegenen collège Maurel im französischen Cantal. Von der Absetzung habe ich über Umwege aus der Presse erfahren.

 

Wie war die dortige Reaktion?

 

Man war – wie ich selbst auch - nicht wenig entsetzt. Zog die unmittelbare Verbindung zu Artauds Hörspiel „Pour en finir avec le judgement de dieu“ (Schluss mit dem Gottesgericht), das im Februar 1948 vom damaligen Intendanten einer französischen Sendeanstalt° ebenfalls kurzfristig abgesetzt wurde und zwar ACHTUNG! – „Zum Schutze des französischen Publikums“.

 

°__Anmerkung der Redaktion: Der damalige Generaldirektor der Radiodiffusion francaise Wladimir Porché setzte die seit Wochen für den 2.2.1948
angekündigte Ursendung am 1.2.1948 ab. (Quelle: elena kapralik; leben und werk Antonin Artaud; S.315; matthes & seitz verlag münchen 1977)

 

Okay. Hier geht es aber nicht sofort ums ganze deutsche Volk, das geschützt werden soll, sondern nur um Würzburg. Das ist wahrscheinlich eine fernab von den Schrecknissen dieser Welt gelegene idyllische Insel, mit einer Universität, einem Stadttheater, einem Marktplatz...

 

... und dem dort geborenen Autor Leonhard Frank, dessen Bücher 1933 verbrannt wurden.

... und einem Grab, in dem Walter von der Vogelweide schnarchen soll... (pmw lacht)

 

Trotzdem ist die Ähnlichkeit der Begründung frappierend. Und obwohl Intendant Hermann Schneider der – fertigen – Inszenierung von Regisseur Dieter Nelle öffentlich bescheinigt, sie zeichne sich durch eine "sensible, authentische und phantasievolle Bildersprache" aus, ist die Theaterleitung zu der
Überzeugung gekommen, Ihr Stück „NACKTES LEBEN...“ wäre einem Würzburger Stadttheaterpublikum nicht zumutbar.

 

Ich kann nicht erkennen, ob der Schwerpunkt auf Würzburg oder auf Stadttheaterpublikum liegt und die abgesetzte Inszenierung entzieht sich der öffentlichen Wahrnehmung. Umsomehr ist diese Argumentation bei näherer Betrachtung eine, die sich als Begründung 2x um die eigene Achse dreht und dann ins eigene Bein schießt. Zudem eine unglaubliche Publikumsbevormundung, die sich niemand gern gefallen läßt. Selbst die, die nicht ins Theater gehen, müssten das erschreckend finden und sich empören. Ganz zu schweigen vom Regisseur und Ensemble, die alle wochenlang dafür gearbeitet haben.

 

Die quasi nachträgliche Feststellung der angeblichen Unzumutbarkeit Ihres Stückes ist auch darum bemerkenswert, weil dieselbe Theaterleitung es ein Jahr zuvor mit einem der wichtigsten Preise für deutschsprachige politische Literatur, eben dem Leonhard-Frank-Preis, ausgezeichnet hatte. Nun wirft man dem Autor also Ihnen – nicht direkt aber unterschwellig – vor, die Textur wuchere mit Unerträglichkeiten "extremer Grausamkeiten".

 

In der Tat: ein groteskes Paradox.

Erinnern wir uns darum kurz, weshalb die Textur mit dem Urtitel „BEI LEBENDIGEM LEIBE“ 2011 mit dem LEONHARD-FRANK-PREIS ausgezeichnet wurde. Die Ausschreibung des MFT WB und der Leonhard-Frank-Gesellschaft lief unter dem Motto „NACKTES LEBEN“. Ein terminus technicus, den als Begrifflichkeit – mit historischem wie aktuellem Wirklichkeitsbezug – das vielbeachtete Werk HOMO SACCER° des italienischen Philosophen Giorgio Agamben umkreist. Darin thematisiert Agamben auf politisch brisante Weise das NACKTE LEBEN, das bar jeden rechtlichen Schutzes durch Ausnahmezustände erzeugt wird, in der das vormals noch gesetzlich geschützte Leben radikal entrechtet wird.

 

Es geht hier also nicht um humoristische Freikörperkultur, sondern...

 

... nein nein, es geht – so schmerzlich es ist – um brutalste Menschenrechtsverletzungen. Und damit beschäftigt sich auf intensivste literarische Weise die dramatische Komposition „NACKTES LEBEN...oder... BEI LEBENDIGEM LEIBE“, die ausgewählte historische wie zeitnahe Dokumente verdichtet und fiktionale Situationen dramatisiert, die als Blaupause mehr als auf nur ein Ereignis passen.

 

„NACKTES LEBEN...oder BEI LEBENDIGEM LEIBE“ ist vermutlich eines der härtesten Stücke, die in jüngster Zeit fürs Theater geschrieben wurden. Hermann Schneider selbst zieht die Linie zu Pasolinis „Salo oder die 120 Tage von Sodom“ . Und die Nähe Ihres Arbeitsfeldes zu Artauds Manifest eines Theaters der Grausamkeit ist unverkennbar. Für die Zeit des Uraufführungszeitraumes haben Sie die komplette STÜCKTEXTUR wie anderes TextMaterial ua die REDE ZUR PREISVERLEIHUNG online gestellt. Warum?

 

Nun. Dies war sowieso vorgesehen und wird vermutlich und fälschlicherweise jetzt als Reaktion bewertet werden. Dabei sollte es allein als zeitgemäßes Angebot fürs Theater- und Fachpublikum daherkommen, im Falle einer schwierigen Inszenierung auch die Textur lesen zu können.

 

Birgt dies nicht – gerade jetzt – gewisse Risiken in sich?

 

Ja, natürlich, aber welche Veröffentlichung täte das in solch speziellem Falle nicht? Allerdings liegt das Risiko einer wie auch immer gearteten ästhetischen, moralischen oder politischen Diskussion nun allein bei mir und der Textur. Die Inszenierung – als quasi weggesperrte – wird der Öffentlichkeit vorenthalten. Jetzt hat man/frau zumindest die Möglichkeit intensiver zu prüfen und diesen Vorgang zu bewerten; auch zu verwerfen oder sich über den Vorgang der Absetzung kenntnisreicher zu empören.

 

Wieso haben Sie sich an dieser thematischen Ausschreibung überhaupt beteiligt?

 

Die Ausschreibung des MFT war mE sehr mutig. Ich war vom thematischen Engagement des Theaters sehr beeindruckt und erkannte, dass dieses Thema bereits seit Anbeginn meines Schreibens mein Thema war. Seit meinem ersten Stück für apokalyptisches theater TRAKT (1988) und dem während des Jugoslawienkrieges erschriebenen Schauerfeldfragment DIE GALEERE DER KALTBLÜTER (1996) gab es mehrere verstreute Textfragmente zur Thematik NACKTES LEBEN, die ich nur noch bündeln musste.

 

Dass sich die Würzburger Autorentheatertage unter dem Motto NACKTES LEBEN 2011 ernsthaft ans Stromnetz der Zeit andocken wollten, während die ATT am Deutschen Theater Berlin mit „Komödien“ aufwarteten und an der von mir sehr geschätzten Volksbühne DIE SPANISCHE FLIEGE anfing zu summen, lockte mich sehr. Zudem kommen grund meines biblischen fern der 35 Jahre liegenden Lebensalters 93% aller Ausschreibungen überhaupt nicht in Frage. Hier bot sich plötzlich ein offener Weg an, der auf einmal wieder zugesperrt/abgesperrt/versperrt wird.

 

Verstörend ist die Absetzung aber auch darum, weil ich der Auszeichnung eine dem Thema und seiner Brisanz mit Blick auf die Chancen des Theaters sicher eine sehr würdige wie intensive REDE ZUR PREISVERLEIHUNG hinterher geschickt habe, die auch die Chancen des Theaters reflektiert.

 

In dieser Ihrer REDE zur Verleihung des Leonhard-Frank-Preises...  schreiben Sie, ich erlaube mir zu zitieren:  „THEATER MUSS MEHR SEIN ALS DER KLECKS EINER VORSTELLUNG EINES TEXTES VOR PUBLIKUM. Mehr als die performative Darstellung von Körper oder Sprechkunst.  (...) Theater sollte sich aus seinen Perversionen, existentiellen Spannungen und gesellschaftlichen Explosionen konstituieren.“ Wie soll man das verstehen?

 

Nun denn, ich meine in aller Konsequenz, dass solch monströses Thema wie das von Agamben umkurvte NACKTE LEBEN mehr verdient hat, als die Titelüberschrift für einen Tag, oder die Anregung für einen Dramatikerpreis mit anschließenden Aufführungen des preisgekröntes Stückes zu sein. Denn genau an diesem Punkt beginnt die Bequemlichkeit subventionierter Kulturinstitutionen, die sich bereits damit für großartig politisch halten.

 

Jetzt kommt es aber – aller Voraussicht nach – nicht einmal zu einem Klecks.

 

. Und das ist in doppelsinnigem Sinne – fatal. Denn wer sich das Theater als sicheres Terrain einrichtet, zerstört das Theater.

 

Sie sind Autor und Dramatiker mit einem Staatsrechts- und Philosophiestudium im Rücken. Haben zu Beginn Ihres schriftstellerischen Lebens große Interviews zB mit Paul Virilio oder Dietmar Kamper geführt. In Ihrer REDE haben Sie daher angeregt, „den Zeitraum der Spielzeit von NACKTES LEBEN um ein HOMO-SACER-SYMPOSIUM oder FRANK-FOUCAULT-TRIBUNAL zu erweitern, wo der TERROR DER ZEIT über alle Instanzen hinweg frei verhandelt wird.“

 

An dieser Stelle Energien freizusetzen und Impulse zu fördern, wäre zweifelsohne eine Investition in die Zukunft des Theaters.

 

Wie hat man von Seiten der Theaterleitung auf dieses Angebot reagiert?

 

Gar nicht..

 

Die Regie? Dramaturgie?

 

Gar nicht.

 

Was glauben Sie, warum nicht?

 

Keine Ahnung. Da kann ich nur spekulieren.

 

Und diese Spekulationen sähen dann wie aus?

 

Also entweder hat sich das Theater mit dieser Thematik übernommen, kann es also intellektuell selbst nicht bewältigen. Oder es ist strukturell überfordert. Und das auf meine Kosten. Aber nichts davon wird man zugeben können.

 

Hätte man in diesen von Ihnen genannten Fällen, also wenn man im Laufe des Produktionsprozesses oder schon davor sieht und erkennt, dass einem die Felle davon schwimmen, nicht ausnahmsweise mal den Autor in eine Produktion miteinbeziehen können?

 

Zweifelsohne. Nur ist das, zumal an einem Stadttheater, völlig unüblich. Der Autor, insbesondere der lebende Autor, gilt an sehr vielen Theatern eher als Störfaktor.

 

Gab es zwischen Ihnen, dem Autor, und der Theaterleitung im Vorfeld oder im Zuge des Produktionsprozesses zwischenzeitlich überhaupt Kontakte?

 

Nein, nicht wirklich. Hermann Schneider hat mich 2 Tage nach der Meldung zur Absetzung per Mail informiert, sein Bedauern ausgedrückt und grundsätzliche Gesprächsbereitschaft signalisiert; wie die aussieht, weiß ich noch nicht. Allerdings gab es im Zuge des Produktionsprozesses mit dem Regisseur Dieter Nelle einen Ideen- und Meinungsaustausch, der mir signalisierte, dass er auf einem guten Wege ist. Leider hat der sich bislang (Stand 17.6.) noch nicht geäußert. Sicher muss er die Sache selbst erst einmal verdauen.

 

Glauben Sie, dass Theater/Kunst/Literatur etwas bewirken kann gegen die von Ihnen beschriebenen Umstände?

 

Das weiß ich nicht. Ich frage mich jedoch stets, was geschähe, wenn es sie nicht gäbe bzw. nicht mehr gäbe. Denn dass man auf sie, die Literatur, in vielfältigster Weise reagiert... Dass man sie – in welcher Form auch immer – „wegschließen“ will, wenn sie zu kritisch, unkorrekt oder wie eine Zumutung daher kommt, zeugt dafür, dass sie vernetzt ins Gefüge einer sozial-gesellschaftlichen Lebenswelt nicht unwichtig ist.

 

Intendant Schneider attestiert Dieter Nelle zwar eine ausgezeichnete Arbeit, behauptet aber gleichzeitig, seiner Regie samt Ensemble wäre es nicht gelungen, den Text zu verschönern.

 

Was? Was? Einen grausamen Text verschönern? Was soll denn das bitte sein? Wenn es dem Regisseur nicht gelungen ist, diesen Text „zu verschönern“, muss ich – in allem Schmerz – doch BRAVO schreien! Oder erst einmal still in mich kehren. Verdauen. Nachdenken. Schweigen.

 

Wie sehen Sie die dramatische Komposition „NACKTES LEBEN...“  im Gefüge Ihres dramatischen Werkes?

 

Zugegeben ist diese schwierige teilweise monströse dramatische Textur nicht unbedingt mein persönliches Lieblingsstück. Das kann einem nichts ans Herz wachsen, dafür ist sie zu kalt. Völlig perspektivlos, hoffnungslos, unnachgiebig. Es zeigt, und das sicher konsequenter als Sartre in Huis Clos (Geschlossene Gesellschaft), dass der Mensch die Hölle des Menschen ist und zwar auf Erden

 

Aber beginnt nicht genau hier das Dilemma?

 

Ich wüsste jetzt auf Anhieb nicht, welches Dilemma Sie meinen?

 

In dem Fragment „Zur Frage der Piraterie“ ist die Ich-Stimme die eines grausamen vergewaltigenden Täters. Was macht es mit Ihrem Kopf/Verstand, sich in den Kopf eines solchen Menschen hineinzudenken?

 

Die Ästhetisierung des Bösen ist natürlich ein Dilemma, besser ein grundsätzliches Problem. Und zwar darum, weil das Grausame oft als Schönes erscheint, insbesondere seitdem es im eigentlichen Sinne das Hässliche in der Kunst nicht mehr gibt. Es gibt aber, wie dieser Fall zeigt, das Unzumutbare, das im Vergleich zu früher, als das auszuschließende Hässliche begriffen wird.

 

Die Szene „Zur Frage der Piraterie“ – falls Sie die meinen? – also wo der Typ im Jobcenter sich nach einer Beratung für die Piraterie entscheidet, ist aber vielmehr eine fiktionale d.h. theoretische Szene, die einen als Dichter/Autor und mehr noch als Dramatiker als theoretische Überreizung immer beschäftigt, wenn es nur um Figuren geht, die biographische Extremsituationen mit politischen Tendenzen ausloten. Dazu zählte in der Textur „NACKTES LEBEN...“ dann aber auch: der KERKER-INHAFTIERTE, die WISSENSCHAFTLERIN, das JUDENMÄDEL oder der an Überlebensmaschinen angeschlossene TOTALGELÄHMTE.

 

Wenn ich Sie recht verstehe, führt die ICHform nur den Leser in eine irritierende Nähe.

 

Exakt. Im Verhältnis zur Bühnenfigur ist sofort Distanz. Dann sehe ich doch, das ist ein anderer.

      

Man schreibt sich den Schmerz aber auch weg. Doch an bestimmten Stellen hinterlässt er eine Leere, der man nicht entkommen kann. Und diese Leere ist das Grauen, von der Kurtz in Conrads „Herz der Finsternis“ spricht. In der Stücktextur „NACKTES LEBEN“ sind das die als Verdichtung zitierten LAGERBERICHTE, aus dem Jugoslawienkrieg und aus Solschenizyns Archipel Gulag. Das ist nicht mehr das Böse, nicht mehr das Bösartige eines Einzelnen, der einzelne Taten begeht. Das ist das Grauen. Das ist das reine unbegreifliche Grauen.

 

Sie selbst haben Ihr Stück als „Zumutung“ beschrieben.

Warum sollte es einem Publikum zugemutet werden?

 

ME ist die Frage falsch gestellt. Es wird schließlich niemand gezwungen, ins Theater zu gehen. Und wenn ich von „Zumutung“ einer öffentlich gemachten Präsentation spreche, spreche ich – ganz im Verständnis dieses wunderbaren Essays von Wolfram Hasch – immer über „Die Kunst der Zumutung“, mit Schwerpunkt auf „Kunst“. Und wenn dies bis an den Rand des Erträglichen oder über den Rand des Zumutbaren hinaus ausnahmsweise mal schmerzt, was wäre daran schlimm?

 

Das kann, wie wir wissen, im Theater auch leicht in die Hose gehen.

 

Klar. Das kann scheitern. Und zwar komplett. Und natürlich muss die Inszenierung für einen schwierigen Text, der als fragmentarische Komposition und somit auch als zu dramatisierendes Material daherkommt, eine/seine ganz spezielle Form finden. Keine Frage. Da ist die Kunst der Regie und des Schauspiels gefragt. Und es wäre Aufgabe der Dramaturgie oder der Theaterleitung, das Publikum darauf vorzubereiten, wenn man befürchtet, es mit Unglaublichem / Niedagewesenem / Unzumutbaren zu konfrontieren oder gar zu verletzten.

 

Es ist aber zuallerletzt und zum Glück: „Nur Theater!“. Zum Glück: „Nur Theater!“. „Nur eine geschriebene Textur!“ Welch Glück! möchte ich da dem Publikum zurufen. Schaut auf die Welt oder in die Vergangenheit eurer Stadt und eures Landes und seid froh, dass es euch so jetzt nicht ergeht. Aber anderen erging oder ergeht es so. Heute, immer noch und in Zukunft. Und bedenkt, was ihr als Menschen tun könnt, dass es anderen so nicht ergeht. Dass das, was im Stück Fiktion ist, nie oder nicht oder nicht mehr geschieht.

 

Haben Sie Hoffnung?

 

Ich weiß nicht. Ich habe Zweifel. Ich habe große Zweifel. Ich glaube, wir haben uns geirrt und werden uns weiter irren. Und wir kommen aus diesem Irrsinn nicht heraus.

 

Die inzwischen arg kritisierte Absetzung Ihrer preisgekrönten dramatischen Komposition hat einen ziemlichen Wirbel weit über Würzburg hinaus verursacht. Auch die Leonhard-Frank-Gesellschaft hat PROTEST angemeldet und befürchtet einen erheblichen Imageschaden des Preises. Gleichzeitig stellt der Vorsitzende der LFG Michael Henke die Grundsatzfrage in dieser Diskussion, was denn unzumutbarer sei: die unerträglichen Zustände der Wirklichkeit oder ein Theatertext? Glauben Sie, dass sich die Theaterleitung des Mainfranken Theater Würzburg die Sache nochmals überlegt und eine Neuansetzung Ihres Stückes NACKTES LEBEN, pardon, der dramatischen Komposition, versucht?

 

Keine Ahnung. Ich glaube eher nicht. Das war ein ziemlich radikaler Schnitt. Den nimmt man selten zurück. Obwohl ein neuer Versuch eher für Stärke denn für Schwäche spräche. Und die öffentliche Aufmerksamkeit für solch Neuversuch – vielleicht auch Neuansatz – würde auch an einem anderen Ort mit Sicherheit für eine immense öffentliche Aufmerksamkeit sorgen.

 

Das wirkliche Dilemma ist aber, dass die meisten im Zu Wenig aufhören und sich nicht um eine verzweifelte Fortsetzung bemühen. Es nicht einmal wagen, bis an die eigenen Grenzen zu gehen. Die letzte Nackt­heit nicht anstreben. Das Unmögliche NIE wagen. Vor dem Unmöglichen Angst haben. Aber gerade das Unmögliche muss nicht nur angekratzt werden sondern gefordert. Sonst sollte man eigentlich einpacken.

 

Hat man vorgeschlagen, die dramatische Komposition auf andere Weise denn als Inszenierung vorzustellen?

Zum Beispiel als Szenische Lesung mit anschließender Diskussion?

 

Bis jetzt nicht.

 

Hat man Ihnen angeboten, ersatzweise ein anderes Ihrer Stücke zu spielen?

 

Nein.

 

Gab es von Würzburger Seite überhaupt eine Art künstlerisches Ausgleichsangebot?

 

Bis jetzt nicht.

 

Was erwarten Sie?

 

Nichts.

 

Was bedeutet das in aller Konsequenz?

 

Nichts.

 

Ich bedanke mich für das Gespräch.

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°__Das Gespräch zwischen der Literaturwissenschaftlerin Elena R. Graves und

Paul M Waschkau fand statt am 17.6.2012 im Berlin/Kreuzberger café bateau ivre.

VisdP  #  Copyright & Kontakt > > >  elr.graves(at)yahoo.com  +  PathosTransport(at)gmx.net  +  www.invasor.org

 

 

 

 

############################################################################################# Anmerkungen

°1 = Giorgio Agamben // Homo sacer/Die souveräne Macht und das nackte Leben; edition Suhrkamp 2068; Frankfurt am Main 2002

 

angegebene Zitate aus pmwaschkaus > > >„NACHREDE zur Verleihung des Leonhard-Frank-Preises 2011:

VERSUCH über DAS NACKTE LEBEN...oder BEI LEBENDIGEM LEIBE

 

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