„Hier
– in Neukölln - leben dermaßen viele Woyzeks, dass es ein Wunder ist, dass so wenige
Morde geschehen.“
NEUE STÜCKE VOM RANDE DER WELT
Wüstenartige Landschaften, durch die
Karawanen ziehen oder eine Formation von Panzern. Ruinenstädte in
Krisengebieten, Elendsquartiere in fernen Ländern. Eine Südpolstation mit
Gestrandeten, sibirische Einsamkeiten oder eine dem Untergang geweihte Insel -
so stellt man sich vielleicht die Orte vor, wo die NEUEN STÜCKE VOM RANDE DER WELT spielen. Doch der Rand der
Welt kann sehr nah liegen. Er kann so nah liegen, dass man ihn als Rand gar
nicht wahrnimmt. Schon ein Bezirk, der bis an die Ortsgrenze einer Weltmetropole
reicht, aber nicht bis ins Zentrum, ein Bezirk wie Neukölln, der im zeitweisen
Zapping des Medienhypes zu den härtesten dieser Hauptstadt zählt, kann solch
einen Weltrand repräsentieren.
Und überhaupt. Besteht die Welt nicht eher
aus ihren Rändern denn aus ihren konkurrierenden Zentren? Und nähren sich jene
Zentren nicht vielmehr von den Rändern der Welt, saugen sie oft sogar vampirartig
aus, während die Ränder - durch ein inneres
Band miteinander verbunden - für sich selbst existieren? Und was wären die
Zentren, deren Mitte meist klein ist, überhaupt ohne die Ränder, ohne den Rand?
Brächen die Zentren nach den Sekundenblitzen des ewigen Trubels und Jubels
sowie ihren systemimmanenten Prahlereien nicht in sich zusammen ohne den sie
stützenden Rand? Könnte die Welt nicht gar eher auf ihre Zentren verzichten
denn auf ihre Ränder?
Wir begrüssen zum
1.Neuköllner Dramatikertreffen!
Da wären wir also. Am Rande der Welt. In
Neukölln. Einem Ort der Unkultur und Sprachlosigkeit, wie der Dramatiker
Nicolai Borger ihn nennt.
Was aber ist das für ein Ort? Ist das ein Vorort der Toten? Ein geheiligter
Ort? Ein Abort? Dann müsste ganz schnell der Boden die Decke die Wand desinfiziert
werden und ausgebrannt. Das könnte unter Umständen Jahre dauern. Das könnte unter
Umständen das vorzeitige Ende bedeuten. Aber dann gingen wir einfach nach
Hause, legten uns schlafen und fingen morgen früh wieder an. So einfach ist
das. Ja ja. So einfach ist das. Aber so einfach sollte es nicht immer sein.
Was nämlich das Schauspiel Neukölln
betrifft... einem der letzten Berliner Bezirkstheater mit recht großem
Ensemble, technischem Personal, einer festen Spielstätte mit Verwaltung und
eingebettet ins Kulturnetzwerk eines mit ca. 330.000 Einwohnern großstadtähnlichen
Bezirks... Nach meinem Empfinden fehlen diesem Theater, das stets im Schatten
der so erfolgreichen Neuköllner Oper stand,
Visionen. Künstlerische Visionen... dramatische Visionen... poetische
Visionen. Was sowieso eine kleine Revolution wäre... Mehr Poesie im Theater!
Trotz allem war der Zyklus NEUE STÜCKE VOM
RANDE DER WELT, die auf Lebensrandlagen wie auf sozio-dramatische Umbrüche
eingehen, ein Anfang. Ein Anfang für eine Vision. Keine Vollendung, aber ein
Anfang. Ein Anfang, der gezeigt hat, was ein THEATER AM RANDE DER WELT, will es
ernst genommen werden, unbedingt leisten muss!
Zeitgenössisches Theater und
zeitgenössische Stücke von lebenden Autoren und Autorinnen. Stücke über die
geredet, diskutiert und gestritten wird. Stücke, die den NERV DER ZEIT streifen
und aktuelle Probleme der menschlichen
Existenz umkreisen. Probleme des Menschen mit sich – allein - in der
Gesellschaft - auf diesem Planeten.
Und denken wir stets daran! Noch immer sind es die AutorInnen, die das
Theater mit ihren Stoffen beleben. Und ohne die Stoffe der AutorInnen wären
die meisten Theater und ihre Macher – NICHTS. Ob die neuen Stücke überleben
oder erst später aufleben, wir wissen es nicht. Aber wir alle wissen
wissentlich, dass einige, denen wir heute keine Beachtung schenken oder die wir
verachten, erst später geboren werden. Einige. Nicht alle. Wenige.
Dass zeitgenössische Stücke nicht nur
vorgestellt sondern auch gespielt werden müssen, versteht sich von selbst. Und
wenn solch ein Zyklus zum Selbstzweck würde oder als Alibifunktion fungierte,
wendet er sich ins Gegenteil, wendet er sich gegen die AutorInnen. Dann sollte
man ihn wieder absetzen oder sich dem Theater verweigern. Aber eigentlich sollte jedes Theater, jedes
Theater mit festem Haus und Ensemble eine ständige Serie mit neuen Stücken von
AutorInnen starten.
Dass man dem Zuschauer allein mit einer
Szenischen Lesung ein unbekanntes Stück mehr als nur zu Gehör bringen kann,
wenn man sich über das Ritual von Wasserglaslesungen hinauswagt, dass man die
Stücke und ihre Intentionen auch fühlbar machen und sogar eine Tendenz für eine
mögliche Inszenierung aufzeigen kann, das ist uns mit dem Zyklus NEUE STÜCKE
VOM RANDE DER WELT zwar nicht immer, aber, so glaube ich, oft gelungen. Und die
intensiven Diskussionen mit einem vielfältig kritischen Publikum haben das
stets bestätigt. Auch wenn wir in der Enge der Zeit oft mehr wollten, als wir
konnten.
Kunst ist
schließlich nicht das, was man kann. Was man kann, das kann man, das ist keine
Kunst. Kunst ist das Wagnis, unbekannte Wege zu erkunden, sie auszumalen, Brücken zu schlagen
zu fernen Ufern, auch auf die Gefahr hin, das anvisierte ferne Ufer zu verfehlen.
Denn Scheitern gehört zum Wesen der Kunst und ganz besonders zum Theater. Das
sollte man nie vergessen.
Daher zerstört das Theater, wer sich
bequem auf sicherem Terrain bewegt. Wozu m.E. die ganze Palette des seichten
Boulevards zählt. Pures Boulevardtheater lässt alle Beteiligten - Künstler wie
Publikum - im Stillstand verharren und führt zuletzt in jene Grüfte, wo
Gemütlichkeit zum Tode führt, wo Unkultur herrscht, wo die Zombies der Straße
die Macht ergreifen. Zwar schenkt uns Boulevardtheater kurzweilige Lacher und
gemütliches Beisammensein, das ist auch schön, aber wenn wir zu Bett gehen, haben
wir es schon wieder vergessen. Ich will noch weiter gehen: Boulevardtheater
fördert die Unkultur, weil es nichts fordert. Es grenzt sogar aus und
provoziert mit der Brandmarkung: Du bist
nicht erwünscht! Solch ein Theater hat Zuwendungen nicht verdient. Weder
von der Öffentlichkeit noch von der Politik.
das Theater als
Treibhaus
existentieller wie gesellschaftlicher Spannungen sollte dagegen die hässliche
Wirklichkeit versuchsweise unmöglich machen. Und das Theater eines so riesigen
Stadtrandbezirkes wie Neukölln sollte sich aus seinen gesellschaftlichen
Explosionen konstituieren. Aus seinen Perversionen und aus seinen verborgenen
Poesien. Hier leben dermaßen viele Woyzeks,
dass es ein Wunder ist, dass so wenige Morde geschehen. Und Woyzek lebt
bekanntlich dort, wo der Hund begraben liegt. Kein schöner Ort.
Wir brauchen
dringend Visionäre!
Auch hier und ganz besonders hier: In Neukölln. Nicht nur unter den Dichtern
& DramatikerInnen, sondern auch unter den RegisseurInnen und den
SchauspielerInnen, die es sich verbieten müssten, sich in tödliche
Bequemlichkeiten einzunisten. Wir brauchen solche, die sich zwischen den
Extremen zu Höhen aufschwingen, wo neues Blut kocht, wo neue Blumen, neues
Fleisch, neue dramatische Landschaften entstehen. Da muss man schon mal sein
behäbiges Ego verlassen und versuchen, über sich hinauszuwachsen. Sonst wird
hier alles bald noch öder sein, als es ohnehin schon ist.
Zuletzt brauchen
wir eine Kunst der Zumutung, die dem Publikum aller Altersklassen eine heroische Haltung
abverlangt. Was wir nicht brauchen, sind ICHomanen, die üblichen ALLESverächter,
Ritter der Traurigkeit. Alles sollte dazu führen, daß man wieder sein Herz
schlagen hört. Man muss sein Herz schlagen hören! Und zwar zu Lebzeiten,
wann sonst. Dafür ist es weder zu früh noch zu spät.