Ich habe den Menschen
gesehen. In Untergrundbahnen. In den Fabriken. In den Büros. Oder jene
Grufties, die sich als leuchtende Luker am Stützbalken halten. Dem Alkohol
verfallen. Die Augen von giftigen Stoffen verdreht. Diese Unterirdischen
Europas. Marionetten aus Menschenfleisch. Angesiedelt in Pornokinos,
Spielotheken, Internetcafes. Die meisten von ihnen sind nur Attrappen, die
sich gut zu bewegen wissen.
Und
der Rest. Was ist mit dem Rest. Der Rest ist bloß die Menschheit. Zusammengesetzt
aus Freunden Verwandten und Mitmenschen. Oder dem Volk. Mein Gott - dem
Volk. Der große Zerstörer des Einzelnen. Horde. Staatsvolk. Gesellschaft.
Familie. Sie führen den Krieg des Ewiggleichen über die Abweichung. Den
Krieg des Banalen über das Rätselhafte, Schräge, Unverständliche. Wenn du
ihr Spiel nicht mitspielst, wenn du ihr Ritual durchkreuzt, wenn du die
Ordnung der Dinge zerstörst, werden sie dich bis in den letzten Winkel der
Erde verfolgen, fangen, bestrafen, töten.
Was macht der Mitmensch bloß den
lieben langen Tag. Was macht er bloß. Das würde ich gern wissen.
Der
Mitmensch sitzt hinterm Tresen, säuft, flucht, rülpst, popelt in der Nase. Und
quatscht dummes Zeug. Alles falsch. Der Mitmensch ist ein ordentlicher
Mensch. Er steht auf. Er steht frühmorgens auf. Er steht regelmäßig früh auf.
Er scheißt. Er wäscht sich. Er putzt sich die Zähne. Er frühstückt. Er rotzt.
Er kratzt sich am Sack. Kämmt sich die Schamhaare. Rasiert sich die Beine und
die Achselbehaarung. Sitzt beim Friseur. Vor der Glotze. Oder durchrast die
Datenbahnen virtueller Welten. Und geht zur Arbeit. Doch doch. Noch geht der
Mitmensch täglich zur Arbeit. Das muss man sich vorstellen. Jeden Tag steht
der Mitmensch früh auf, um zu einer Arbeit zu gehen. Warum macht der Mensch
das. Ist das nicht irrsinnig. Wieviel Zeit da drauf geht. Das ist doch
ungeheuer viel Zeit, die da draufgeht.
Ich
will genau sein. Der Mitmensch ist ein zeitloses Wesen. Flüchtling in den
grauen Landschaften unserer Gehirne. Gegenwart. Vergangenheit. Nahezu ohne
Zukunft. Immerzu erfindet er Ausreden. Vom Beschäftigtsein. Von Arbeit. Von
den großen Dingen, die auf ihn warten und zu erledigen sind. Oder die er schon
hinter sich hat und die neu kalkuliert werden müssen. Katalogisiert. Beschriftet.
Für die Zeit danach. Für die unermessliche Zeit danach. Das ist der Mitmensch.
Ein Phantom, das uns auf den Fluren von Ämtern begegnet. Im Supermarkt. In
der Untergrundbahn. Oder zwischen den eigenen Laken getarnt als geliebte
Aphrodite oder als Herakles in der Gestalt Arnold Schwarzeneggers. Aber
vielleicht existieren die Götter, von denen uns Hermes erzählte, gar nicht.
Und wären wir Helena, Homer oder Herakles gewesen, was hätten wir von der
Geschichte der Nachwelt gehabt?
Auf dem Marktplatz der Gleichgültigkeiten tauschen wir unsere Haut gegen wärmende Mäntel ein, denn es ist kalt hier.
Ach,
die Menschen. Sie wissen ja nichts. Sie sind dumm. Sie erwachen und
verschwenden sich an der Wirklichkeit. Arme Irre. Gespenster. Traurige
Gestalten. Sie sind niemals jung gewesen. Ein schlafender Sinn dirigiert ihre
wachen Körper. Und am Ende? Am Ende liegen sie in genormten Klinikbetten.
Haben so gar nichts von der angestrebten Rente gehabt. Jammern ihrem vergeudeten
Leben nach. Jammern, daß sie gar nichts erreicht haben. Daß die Zweiwochenurlaube
auf Kreta nicht wiederkommen. Die Sportschau passe sein wird. Die Skatwettbewerbe
verloren. Daß ihre Zeit um ist. Die Armen. Sie sind so bedauernswert. Mir
kommen die Tränen. Ich muss gleich weinen. Das Elend des Mitmenschen stimmt
mich traurig. Der Mitmensch stirbt und er hat so wenig vom Leben gehabt. Mitmensch,
was machst du mit deinem Leben. Warum verfließt es so schnell. Warum ist die
Rente nur um 1% gestiegen und nicht wie versprochen um 2%. Ja Mitmensch,
ich weiß. Das ist alles sehr traurig. Man schenkt dir nichts. Man will dir
nichts Gutes. Eine große Aussichtslosigkeit beherrscht dein Leben. Eines
Tages wirst du für nichts gestorben sein, so wie du für nichts gelebt hast.
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Das Pamphlet ist Teil des
2003 im Berliner ORPH.Theaters uraufgeführten Killer/Terrormonolges
„Hyänenherz/Traum eines Kamikazefliegers“ und erscheint auch im Roman: Exit.49.
2005 wurde es nach Einladung für ein Kurz-Hörspielfestival vom ORF WIEN auch
als Minihörspiel ausgestrahlt.