paul m waschkau

 

 

Über den Mitmenschen

 

 

Ich habe den Menschen gesehen. In Untergrund­bahnen. In den Fabriken. In den Bü­ros. Oder jene Grufties, die sich als leuch­tende Lu­ker am Stütz­balken halten. Dem Alko­hol ver­fallen. Die Au­gen von giftigen Stof­fen ver­dreht. Diese Unterir­dischen Euro­pas. Marionetten aus Men­schen­fleisch. Ange­sie­delt in Pornokinos, Spielothe­ken, Inter­net­cafes. Die meisten von ihnen sind nur At­trappen, die sich gut zu bewegen wissen.

 

Und der Rest. Was ist mit dem Rest. Der Rest ist bloß die Mensch­heit. Zu­sam­mengesetzt aus Freun­den Ver­wandten und Mit­menschen. Oder dem Volk. Mein Gott - dem Volk. Der große Zerstö­rer des Ein­zelnen. Horde. Staatsvolk. Ge­sell­schaft. Familie. Sie füh­ren den Krieg des Ewigglei­chen über die Abwei­chung. Den Krieg des Ba­nalen über das Rät­sel­hafte, Schräge, Unverständli­che. Wenn du ihr Spiel nicht mit­spielst, wenn du ihr Ritual durch­kreuzt, wenn du die Ordnung der Dinge zer­störst, werden sie dich bis in den letzten Win­kel der Erde verfolgen, fan­gen, bestra­fen, tö­ten.

 

Was macht der Mitmensch bloß den lieben lan­gen Tag. Was macht er bloß. Das würde ich gern wis­sen.

 

Der Mitmensch sitzt hinterm Tresen, säuft, flucht, rülpst, po­pelt in der Nase. Und quatscht dummes Zeug. Alles falsch. Der Mit­mensch ist ein ordent­licher Mensch. Er steht auf. Er steht frühmor­gens auf. Er steht re­gelmäßig früh auf. Er scheißt. Er wäscht sich. Er putzt sich die Zähne. Er früh­stückt. Er rotzt. Er kratzt sich am Sack. Kämmt sich die Scham­haare. Ra­siert sich die Beine und die Ach­selbe­haarung. Sitzt beim Friseur. Vor der Glotze. Oder durch­rast die Daten­bahnen virtueller Welten. Und geht zur Ar­beit. Doch doch. Noch geht der Mitmensch täglich zur Ar­beit. Das muss man sich vorstel­len. Jeden Tag steht der Mit­mensch früh auf, um zu ei­ner Ar­beit zu ge­hen. Warum macht der Mensch das. Ist das nicht irrsin­nig. Wie­viel Zeit da drauf geht. Das ist doch ungeheuer viel Zeit, die da drauf­geht.

 

Ich will genau sein. Der Mitmensch ist ein zeitlo­ses Wesen. Flüchtling in den grauen Landschaften unse­rer Gehirne. Gegen­wart. Vergan­genheit. Na­he­zu ohne Zukunft. Immerzu erfindet er Aus­re­den. Vom Beschäftigtsein. Von Ar­beit. Von den großen Din­gen, die auf ihn warten und zu erledigen sind. Oder die er schon hin­ter sich hat und die neu kal­kuliert wer­den müs­sen. Katalogi­siert. Be­schriftet. Für die Zeit danach. Für die un­ermessliche Zeit da­nach. Das ist der Mit­mensch. Ein Phantom, das uns auf den Fluren von Äm­tern be­gegnet. Im Super­markt. In der Untergrund­bahn. Oder zwi­schen den eigenen Laken getarnt als ge­liebte Aphrodite oder als Hera­kles in der Ge­stalt Arnold Schwar­zen­eggers. Aber viel­leicht exi­stieren die Götter, von denen uns Hermes er­zählte, gar nicht. Und wä­ren wir He­lena, Ho­mer oder He­rakles gewesen, was hätten wir von der Ge­schichte der Nachwelt ge­habt?

 

Auf dem Marktplatz der Gleichgültig­keiten tau­schen wir un­sere Haut gegen wär­mende Män­tel ein, denn es ist kalt hier.

 

Ach, die Menschen. Sie wissen ja nichts. Sie sind dumm. Sie er­wachen und verschwenden sich an der Wirklich­keit. Arme Irre. Gespen­ster. Traurige Gestalten. Sie sind nie­mals jung gewesen. Ein schlafender Sinn dirigiert ihre wachen Kör­per. Und am Ende? Am Ende liegen sie in genormten Kli­nik­betten. Haben so gar nichts von der angestreb­ten Rente ge­habt. Jammern ihrem ver­geudeten Le­ben nach. Jam­mern, daß sie gar nichts erreicht ha­ben. Daß die Zwei­wochenurlaube auf Kreta nicht wiederkom­men. Die Sport­schau passe sein wird. Die Skatwett­bewerbe verlo­ren. Daß ihre Zeit um ist. Die Ar­men. Sie sind so bedau­ernswert. Mir kom­men die Trä­nen. Ich muss gleich weinen. Das Elend des Mitmen­schen stimmt mich trau­rig. Der Mit­mensch stirbt und er hat so wenig vom Leben gehabt. Mit­mensch, was machst du mit deinem Le­ben. Warum verfließt es so schnell. Warum ist die Rente nur um 1% gestie­gen und nicht wie ver­spro­chen um 2%. Ja Mit­mensch, ich weiß. Das ist alles sehr traurig. Man schenkt dir nichts. Man will dir nichts Gutes. Eine große Aussichtslosig­keit be­herrscht dein Le­ben. Eines Tages wirst du für nichts gestor­ben sein, so wie du für nichts ge­lebt hast.

 

#

 

Das Pamphlet ist Teil des 2003 im Berliner ORPH.Theaters uraufgeführten Killer/Terrormonolges „Hyänenherz/Traum eines Kamikazefliegers“ und erscheint auch im Roman: Exit.49. 2005 wurde es nach Einladung für ein Kurz-Hörspielfestival vom ORF WIEN auch als Minihörspiel ausgestrahlt.